Das Tanzorchester Astoria wurde 1955 im sächsischen Neugersdorf gegründet. Die Bigband bestand anfangs aus 14 Musikern: der Rhythmusgruppe, fünf Saxofonen (darunter ein Baritonsaxofon), drei Posaunen und drei Trompeten. Kapellenleiter war bis 1965 der Pianist Wolfgang Erhard Israel (1925-1985).
Die Kapelle bespielte anfangs die Tanzsäle zwischen Görlitz und Dresden, später im gesamten Gebiet der DDR. 1958 gewann Astoria einen Tanzkapellenwettbewerb in Dresden und wurde daraufhin im Berliner Rundfunk und im Programm Radio DDR promotet (beide 1959). Auch im noch jungen Fernsehen der DDR konnte die Kapelle auftreten, im Laufe der Jahre über 40 mal. Der Rundfunk produzierte mit Astoria über 70 Live-Sendungen und über 1000 Titel. Dabei handelte es sich überwiegend um eigene Arrangements fremder Kompositionen, vor allem von DDR-Autoren.
Der Stil der Kapelle orientierte sich in den 1950ern und 60ern an großen Swingorchestern der USA. Die Musiker spielten auch improvisierte Soli, für die damalige Zeit etwas Besonderes: Es gab in der DDR (und der BRD) noch keine entsprechende Ausbildung und im Osten nur wenig Kontaktmöglichkeiten mit US-amerikanischen Bands und Musikern.
Der Karriere des Tanzorchesters Astoria in der DDR und im sozialistischen Ausland war sicher nicht abträglich, dass die Musiker versuchten, das kulturpolitische Credo des Sozialistischen Realismus zu verinnerlichen. Dazu gehörte die Orientierung am nationalen und volksmusikalischen »Erbe«. 1965 beispielsweise erhielt das Orchester eine Urkunde »für besondere Verdienste bei der Entwicklung und Popularisierung zeitgenössischer sorbischer Tanz- und Unterhaltungsmusik« für seine einschlägigen Musikproduktionen mit dem Sender Cottbus (Radio DDR).
Hier können Sie sich ein Hörbild von der frühen Kapelle Astoria machen: Ein Porträt aus dem Jahr 1959, produziert und gesendet von Radio DDR. Es besteht aus sechs Titeln, mit Moderation und einem kleinen Interview mit dem Leiter Wolfgang Erhard Israel. Die Titel stammen entsprechend der damaligen kulturpolitischen Strategie fast ausschließlich von DDR-Komponisten und Autoren. Einzig die Komposition Sonny Boy (Henderson/De Sylva/Brown, ein früher Swing-Hit aus den 1920er Jahren) ist dem internationalen Repertoire entnommen, bezeichnenderweise ohne Nennung der Namen und Herkunft der Autoren.
Digitalisat einer Tonbandproduktion von Radio DDR mit dem Tanzorchester Astoria, 1959, 25:20 Minuten, Inhalt u.a.: Boogie für dich (Penndorf), In der Nacht (Oppenheimer), Die Nacht (Petr), Ja ja, die Frauen (Hugo), Sonny Boy (Henderson/De Sylva/Brown), Schwarz auf Weiß (Kretzschmer). Solisten: Irmgard Haase, Hans Innemann.
Das Archiv für Populäre Musik im Osten dankt Herrn Dr. Siegfried Israel (Dresden) und Frau Ursel Trieb (Neugersdorf) für die Schenkung von Teilen des Nachlasses des Tanzorchesters Astoria, u.a. handschriftliche Arrangements, Musikproduktionen, Plakate, Fotos und Vertragsdokumente.
Klaus Herkner hat auf seiner Website ebenfalls das Tanzorchester Astoria porträtiert. Lesenswert sind außerdem die dort veröffentlichten Beiträge über den Nachkriegsjazz in Görlitz.
Sehr interessant, vielen Dank! Auch für das, was hier nicht aufgelistet wurde (also nach den 25’20). Das war wohl Anfang der sechziger Jahre – mit den Covern von Mary Halfkaths „Was kann ich denn dafür, dass es mir schmeckt“, dem Babysitter-Boogie (Ralf Bendix) und den Glenn-Miller-Twists (offenbar ein Günter-Gollasch-Cover). War das auch von „Astoria“ eingespielt? Ich fand den Moderator durchaus sachkundig – und recht einfühlsam, was die weiteren Betätigungsmöglichkeiten des Orchesters angeht – verbunden mit sachter „Systemkritik“.
Ich finde (als noch relativ junger „Wessi“ aus Heidelberg), man müsste sich viel mehr um das musikalische Nachkriegserbe im Osten Deutschlands kümmern – und dafür Ihnen, Herr Bretschneider, vielen Dank.
Der Moderator der Rundfunksendung dürfte Karlheinz Drechsel sein. Sehr interessant, ihn einmal in einer seiner frühen Produktionen zu hören.